Mit einem geschulten Blick für das Vergängliche hält Ruth Kasper in der „chair“ betitelten Arbeit den flüchtigen Moment des Schattenwurfs eines Bistrostuhls auf den Pflastersteinen fest. Die Struktur der Sitzfläche schafft ein filigranes Schattenbild von geradezu zeichnerischer Qualität, das sich mit jeder Minute, die verstreicht, verändert. Die im Ansatz zu sehenden metallenen Stuhlbeine verankern die Schattenzeichnung in der Realität und verleihen dem Foto eine weitere reizvolle Komponente.
Neben den Schattenbildern umfasst die „structures“ Serie auch solche Fotografien, in welchen die formal-graphische Anmut des Bildausschnitts im Mittelpunkt steht.
Mit ihrem feinen Gespür für Strukturen entdeckt Ruth Kasper Dinge, die dem oberflächlichen, schnellen Blick verborgen bleiben. Im Heranrücken an das Motiv und dem Fokussieren auf einen engen Bildausschnitt, beschreitet die Künstlerin unterschiedliche Stufen der Abstraktion. So fällt es dem Betrachter nicht schwer, in der „green needles“ betitelten Arbeit noch die langen Grashalme zu erkennen, die ein Sturm oder kräftiger Regen flach auf die Erde gepresst hat. Beim Blick auf das Foto wird beim Betrachter ein Wiedererkennungsprozess gestartet, der alle bislang erworbenen Bilderfahrungen abruft und versucht Vergleiche mit Gesehenem herzustellen, um das Bildmotiv zu benennen. Das Ergebnis dieses Wahrnehmungsprozesses unterliegt soziokulturellen Unterschieden, der Ablauf jedoch geschieht unbe-wusst und vollkommen automatisch und ist bei jedem Menschen gleich.
In Bedrängnis kommen wir als Betrachter immer dann, wenn uns die gegenständlichen Assoziationen im Stich lassen und unsere Ratio von der Emotio besiegt wird, also unsere Intuition über die Logik siegt, weil diese am Punkt des Wiedererkennens scheitert.
Sonnengelbe Farbpigmente mit grauen Einschlüssen – viel mehr lässt sich auf dem Fotoabzug von Ruth Kasper nicht erkennen. Es könnte sich hierbei um vielerlei handeln: Blütenstaub oder Aufnahmen von einem Elektronenmikroskop – der Bildgegenstand bleibt unerkannt und erst der Hinweis „road“, den uns die Künstlerin als Titel gibt, lässt uns die gelbe Farbe als Nahaufnahme eines Markierungsstreifens auf Asphalt erkennen.
Noch einen Schritt weiter geht die Fotokünstlerin in der „cow“ betitelten Arbeit. Hier verschmilzt die Spiegelung des Bildmotivs auf der Wasseroberfläche mit den Farbtönen der Umgebung. Durch diese in die Fotografie eingebrachte zweite Bildebene der Wasserspiegelung verleiht Ruth Kasper ihrer Aufnahme einen hohen Abstraktionsgehalt.
Es ist genau diese Schnittstelle, diese Übergangszone zwischen Gegenständlichkeit und Abstraktion, in der Ruth Kaspers „structures” Serie angesiedelt ist.
Die durch Zufall gefundenen und auf den Fotos festgehaltenen Strukturen sollen es dem Betrachter ermöglichen, die Arbeiten aus seinem ganz individuellen Blickwinkel zu erfahren, und ihm die Freiheit für seine ganz eigenen Interpretationen zu bieten.